„Einer alten Frau wurde das Bein abgerissen und das Blut spritzte auf ihre Enkelin“

 
  • Тарас Зозулінський

Vom ersten Tag des Krieges an wurden Charkiw und seine Vororte brutal bombardiert. Die Russen haben ganze Stadtviertel zerstört. Trotzdem wollen einige der russischen Verwandten unseres Interviewpartners die Wahrheit nicht wahrhaben.

Mein Name ist Mykola Makarenko. Ich wurde am 20. Mai 1964 in Lebedin, Region Sumy, geboren. Mit 18 Jahren wurde ich zu den sowjetischen Streitkräften eingezogen. Ich wurde zu einer Ausbildungseinheit in Fergana, Usbekische SSR, geschickt. Später wurde ich für eineinhalb Jahre in die Demokratische Republik Afghanistan geschickt.

Nach der Demobilisierung kehrte ich nach Hause zurück und fand Arbeit in der Militärfabrik Lebedinsky. Zuerst war ich Lehrling, dann Dreher. Ich arbeitete drei Jahre, dann wurde die Fabrik geschlossen. Ich musste über meine Zukunft nachdenken. Man bot mir an, die Offiziersschule zu besuchen, um meinen Militärdienst fortzusetzen. Ich willigte ein.

Die Offiziersschule habe ich 1989 abgeschlossen. Ich wurde einer militärischen Raketeneinheit als Techniker für das Fahrgestell MAZ-543 zugeteilt. Ich diente bis 1992, als die Militäreinheit wegen des mangelnden Raketenpotenzials der Sowjetunion aufgelöst wurde. Da ich einen militärischen Rang und Berufserfahrung hatte, schlugen mir meine Freunde vor, mich an der Fakultät für Luftverteidigung der Militäruniversität Charkiw als Offizier für Luftverteidigungskurse zu bewerben. Dort arbeitete ich bis 2010, als ich in den Ruhestand ging.

Als ich in den Ruhestand ging, merkte ich, dass es unerträglich war, zu Hause zu sitzen und nichts zu tun. Mein Sohn und ich haben angefangen, Wohnungen zu renovieren. Wir waren ziemlich gut darin. Das ging so bis zum 23. Februar (2022).

Wie haben Sie die ersten zwei Monate des Krieges in Charkiw erlebt?

Der 23. Februar war ein ganz normaler Tag. Am 24. wachte ich auf und hörte Explosionen oder Donner, ich wusste nicht, was es war. Ich schaute aus dem Fenster – es schien nichts zu passieren, ein ganz normaler Tag. Dann plötzlich ging es los. Die ersten Raketen schlugen in militärische Einrichtungen ein. Wobei man die Panzerschule in Charkiw kaum als militärische Einrichtung bezeichnen kann. Es gab dort etwa sechs oder sieben Panzer als Studienobjekte. Und es gab Schüler – Kinder im Alter von 13 bis 15 Jahren. Es gab überhaupt nichts Militärisches.

Auf der anderen Straßenseite stand ein Kadettenkorps, das in Stücke gesprengt wurde. Ich weiß nicht, ob es Verletzte gab. Niemand hatte damit gerechnet. Der „Kaska“-Markt in der Poltawski-Schljach-Straße wurde zerstört. Die Granaten schlugen in ein Haus ein und zerstörten fast die ganze Hausecke. Ein Gebäude, in dem der „Staatliche Dienst der Ukraine für Notfallsituationen“ untergebracht ist, wurde durch den Beschuss durchlöchert. Das Lebensmittelgeschäft „Klass“ wurde beschädigt. Ein Untersuchungsgefängnis wurde zerstört. Ich weiß nicht, wie viele Menschen dort waren.

Dann begann der Beschuss. Sie (die Russen) bombardierten uns so stark… Das passierte jeden Tag, sogar mehrmals am Tag. Eines Morgens telefonierte ich mit meinem Sohn. Ich hörte Militärflugzeuge über das Haus dröhnen. Ich rief: „Sohn, wir werden bombardiert!“

Die Rakete flog über mein Haus hinweg und schlug in ein anderes Haus in der Nähe des Bahnhofs ein. Die Explosion war so stark, dass mein Haus wackelte.

Ich schaute aus dem Fenster – da war so viel schwarzer Rauch! Aschepartikel flogen bis in meinen Hof.

Jemand hat Markierungen angebracht, damit die Russen uns leichter bombardieren konnten. Es gab viele solcher Markierungen. Ich habe sie sogar zufällig auf meinem Zaun gesehen, als ich Wasser holen ging. Als ich herauskam, sah ich orangefarbene Kreise auf dem Zaun. Ich fragte meinen Nachbarn: „Hey, weißt du, was das ist? So etwas haben wir noch nie an einem Zaun gesehen, oder?“

Ich versuchte, die Markierung abzukratzen, aber es gelang mir nicht. Dann ging ich auf die andere Straßenseite und sah weitere Markierungen auf den Masten. Ich habe sie übermalt. Entlang der Poltawski-Schljach-Straße gab es auch viele Markierungen.

Haben Sie Verbrechen gegen Zivilpersonen beobachtet?

Eine Rakete schlug auf dem Hauptplatz von Charkiw ein. Auf diesem Platz stand ein Freiwilligenzelt mit Bildern und Informationen, die an die russische Invasion 2014 erinnerten. Dieses Zelt stand dort seit 2014 und die Rakete schlug direkt in das Zelt ein. Das ist mit unserer Stadt passiert. Und das ist nur das, was ich persönlich gesehen habe. Und was von Saltiwka (einem Stadtteil von Charkiw) übrig geblieben ist… Nun, sie (die Russen) haben es völlig zerstört.

Viele Menschen sind gestorben. Ich sah ein Mädchen mit Blut am Bein laufen. Eine Rakete traf eine Schlange von Menschen, die auf Essen warteten. Einer alten Frau wurde das Bein abgerissen und das Blut spritzte auf ihre Enkelin.

Die Frau lag neben dem Laden. Als wir das Mädchen fragten, was passiert sei, sagte sie: „Meiner Großmutter wurde das Bein abgerissen und ihr Blut ist auf mich gespritzt“. Das Mädchen stand unter Schock. Sie war etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt.

Viele Stadtteile von Charkiw wurden schwer beschädigt, z.B. Oleksijiwka und Pjatykhatky. Dort gab es keine militärischen Einrichtungen, sondern nur Wohnhäuser. Unser Gorki-Park sah aus wie Disneyland, jetzt ist er schwer beschädigt. Sie (die Russen) haben alles zerstört, was sie konnten. Ein Freund von mir wohnte in Zirkuny, einem Vorort von Charkiw. Ich hatte sein Haus renoviert. Jetzt gibt es das Haus nicht mehr. Es liegt in Trümmern. Auch der Vater meines Freundes wurde verletzt.

Überall sind Ruinen zu sehen, vor allem in der Nähe der Grenze (zu Russland)… In der Region Sumy wurde Achtyrka ausgelöscht. Die Kleinstadt wurde völlig zerstört.

Was denken Ihre russischen Verwandten über den Krieg?

Ich habe eine Cousine, die in Archangelsk lebt. Ich habe auch eine Halbschwester in Sewastopol. Die aus Sewastopol wartet darauf, dass die Russen die Krim verlassen. Und die aus Archangelsk… Tja, was soll ich sagen? Ich habe keine Cousine mehr! Sie erzählte mir, dass ich „Bandera“ sei (die Russen nennen Ukrainer oder pro-ukrainische Leute „Bandera(s)“ wegen des Nachnamens des berühmten ukrainischen Politikers und Aktivisten Stepan Bandera), dass Bandera-Anhänger einst ihren Großvater getötet hätten.

Ich sagte zu ihr: „Hast du überhaupt Bandera-Anhänger gesehen? Weißt du überhaupt, wer Bandera ist? Er ist schon seit Jahren tot und ihr (die Russen) habt immer noch Angst vor ihm. Ihr seid dort alle verrückt!“

Aber es ist sinnlos, irgendetwas zu beweisen; sie wurden einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie hat mir einfach gesagt: „Du bist „Bandera“, ich will nicht mehr mit dir reden“, und das war’s. Ich habe nie wieder mit ihr gesprochen… Ich will wirklich, dass ihnen (den Russen) alles, was sie uns angetan haben, zurückgegeben wird! Das ist alles, was ich will…

Das Interview wurde von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe vorbereitet und von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte übersetzt.

Taras Sosulinskij