„Wir sammelten Schnee, erhitzten ihn und kochten damit das Essen“ – eine kinderreiche Mutter aus Mariupol
- Тарас Зозулінський
Kateryna ist mit drei Kindern aus Mariupol geflohen. Sie erzählt, wie sie im Keller lebten, auf offenem Feuer kochten und wie sie vor allem Angst vor feindlichen Fliegern hatten, als Kamas sich in einem Trichter vor einer Fliegerbombe „verstecken“ konnte. Das Interview wurde vom Journalisten aus Lwiw – Taras Sosulinskij – vorbereitet.
– Mein Name ist Katya, ich bin einunddreißig Jahre alt, bis vor kurzem lebte ich in der Stadt Mariupol, in der Region Donezk. Dort bin ich geboren, aufgewachsen, nie weggegangen.
All dies begann 2015, als sie in Mariupol den rechtsufrigen Stadtbezirk beschossen. Den östlichen. Genau den Bezirk, in dem ich gelebt habe. Wir hatten Bombeneinschüsse im benachbarten Gebäudeeingang, bei uns in der Wohnung hatte es die Fenster herausgehauen. Die Loggia des Gebäudekomplexes wurde komplett zerstört.
Damals waren wir in diesem Moment alle im Haus, sind alle am Leben, alle gesund geblieben. Aber als wir aus dem Fenster schauten, sah ich, wie die Granaten Geschäfte getroffen hatten, sah, wie sie den Kindergarten getroffen hatten. Sie hatten uns mit „Grads“ (Raketen des russischen Mehrfachraketensystems) beschossen. Es ist unmöglich das was man dabei empfindet, in Worte zu fassen.
Ich war damals mit meiner zweiten Tochter schwanger, heute habe ich drei Töchter. Drei, sechs und acht Jahre. Meine erste Tochter war ein Jahr und einen Monat alt – zum Zeitpunkt des Beschusses. Ich war schwanger, das alles ging sehr an die Nerven und war emotional sehr schwer durchzustehen. Gott sei Dank, dass alle in unserer Familie am Leben und wohlauf geblieben waren. Damals starben mehr als dreißig Menschen, und viele Menschen wurden verletzt. Auf den Straßen lagen bereits Tote, sie wurden zugedeckt mit dem was man hatte, so wie man es konnte. Dann kam sofort die Asow (Sturmregiment der ukrainischen Streitkräfte), schnell kam ein Krankenwagen und die Feuerwehrleute. Denn die Wohnungen brannten. Geschäfte brannten.
Ich kam genau eine halbe Stunde nach dem Beschuss heraus, ich sah alles, hörte es … Die Leute rannten auch raus, sie hatten Angst. Kinder wurden in die Keller hinabgelassen, weil sie große Angst vor dem zweiten Beschuss hatten. In diesem Moment wurde bei uns plötzlich alles ausgeschaltet. Schon binnen einer halben Stunde nach dem Beschuss verschwanden das Licht, das Wasser und die Verbindung zur Außenwelt. Wir hatten absolut keine Verbindung innerhalb der Stadt. Und nach dem Beschuss, bereits am Abend oder am nächsten Morgen, wurde die gesamte Kommunikation wiederhergestellt.
Und da, in diesem Moment habe ich es wohl geistig erfasst, dass sie tatsächlich im 21. Jahrhundert einfach ein schlafendes Wohngebiet bombardieren können, in dem es nichts gibt, nur Häuser, in denen Menschen leben, ohne Gründe oder Erklärungen. Und fertig.
Wir sind nirgendwohin weggegangen. Nicht aus der Stadt, nicht aus dem Bezirk. In dem damaligen Moment. Weil es so aussah, als hätten wir eine Armee. Danach wurden schon Checkpoints, nicht weit von uns, gebildet, wir wussten, dass wir unter Schutz standen. Geschäfte, alles funktionierte. In wenigen Tagen war alles in Ordnung, praktisch im Alltag. Nun, mental war es sehr hart. Nach dem Beschuss klapperten wir im Eiltempo die Verwandten ab, um herauszufinden, dass alle am Leben waren, alle in Sicherheit und gesund waren.
– Erzählen Sie uns vom ersten Tag des kriegerischen Großangriffs. Wie hat er Sie erwischt?
– Am 23. Februar 2022 gab es die erste Erfahrung: dass Putin einen Befehl unterschrieb, dass er die sogenannten „LVR“ und „DVR“ (die sogenannten von den russischen Separatisten selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk) anerkennt. Und ihnen hilft. Und so gingen wir am 23. abends um zehn Uhr abends mit einem sehr mulmigen Gefühl zu Bett. Wir hatten wirklich Angst davor, was als nächstes passieren würde. Denn 2014, -15 Jahren wussten wir, dass er Mariupol brauchte, dass es der Landweg zur Krim ist. Wir wussten, dass wir ihm im Weg standen, dass er es brauchen würde. Aber niemand konnte sich vorstellen, dass es so weit gehen würde.
Und am 24., morgens, wohl etwa gegen halb sechs, hörte ich wie es ganz in der Nähe einen großen Schlag gab. Aber in unserer Region haben wir in diesen sieben oder acht Jahren immer wieder Bombeneinschläge gehabt. Wir haben uns irgendwie daran gewöhnt, wir hatten schon keine direkte Gefahr mehr wahrgenommen.
Wenn ich in der Nacht Einschläge gehört hatte, haben wir die Fenster verschlossen und dann sind wir ins Bett gegangen. Das heißt, wir hatten keine so extreme fürchterliche Angst. Und dann rief mich meine Mutter um halb sieben an – sie arbeitet am Rande des östlichen Bezirks, der an den Novoasowskij Bezirk grenzt- und sie sagte mir, dass bei uns hinter dem Geschäft eine Menge Ausrüstung zu sehen sei, Panzer, gepanzerte Personentransporter. Viele Soldaten. Verlasst das Haus nicht.
Mama sagte, ich solle nirgendwo hingehen, aber es war ein Arbeitstag, Donnerstag, ein Kind ging in den Kindergarten, ich war bereit, mein Wecker war gestellt um es in den Kindergarten zu bringen. Mama rief an und sagte, ich solle nirgendwo hingehen. Wir blieben dann alle im Haus.
Und schon da sah man im Internet, dass tatsächlich der Krieg schon begonnen hatte. Wir hatten schon wieder Strom, alle Verbindungen funktionierten wieder. Der Krieg hatte begonnen, wir sahen, dass die Invasion in der gesamten Ukraine stattfand. Kyjiw, Charkiw, die wichtigsten Städte wurden beschossen. Dass es Einschläge auf allen Militärbasen gab, praktisch alle Flughäfen in der Ukraine betroffen waren.
Und es rotierte schmerzlich in meinem Kopf, denn im Eingang des 21. Jahrhunderts, in der Zeit der Diplomatie. Und wir haben einen Krieg. Wie? Wie kann das sein?
Wir verließen von 24. bis zum 28. das Haus nicht. Zu Beginn. In dieser Zeit waren wir zu Hause, wir sind nirgendwo hingegangen, aus Sicherheitsgründen habe ich die Fenster mit Klebeband abgedichtet, wie empfohlen wurde. Auf dem Platz zwischen den Fenstern habe ich die Matratzen von den Kinderbetten gestellt. Denn wenn die Fensterscherben fliegen, so hatte ich verstanden, dass die Matratzen zumindest als eine Art Abfederung dienen. Wir blieben zu Hause, wir gingen nirgendwo hin.
Am 24. und am 25. morgens hatten wir noch Strom, es gab Wasser, es gab Gas. Die Heizung ging nicht. Die Heizung wurde am 24. sofort abgestellt. War schon da nicht mehr da. Und am 25. abends waren wir schon ohne Licht, komplett. Es gab noch Wasser und Gas. Der Beschuss in großer Zahl begann wohl am 27., 28. Und am ersten (März). Es waren wirklich drei Tage, an denen es sehr heftige Kämpfe gab.
In einem Gespräch von Freundinnen ging es darum, dass am Rande des Bezirks, wo die Schule No. 69 ist, die Fenster der Schule zerborsten seien. Wir hatten sehr nahe Einschläge. Wir saßen da und fingen an zu zählen – aha, das war der Einschlag, jetzt die Sekundenzählen, um zu verstehen, wie weit entfernt er gelandet war. Wie nah er ankommen oder vorbeifliegen wird – auch das galt es zu Durchleben.
Wir versteckten uns im Korridor, saßen auf Matratzen, ich stülpte den Kindern Bettdecken über. Und sie saßen nur da und beteten. Wir haben zusammen immer gebetet. … Meine dreijährige Tochter hat in nur einem halben Tag das „Vaterunser“ gekonnt. Sie saß, betete, sprach uns nach.
Am 28. abends sowie am ersten morgens und abends gab es sehr starken Beschuss, saßen wir im Korridor – nicht einmal haben wir ihn verlassen. Am ersten habe ich abends meinen Mann angerufen und ihm gesagt, dass wir etwas tun müssen.
Empfang gab es nur zwischen dem achten und neunten Stock. Auf dem Flur. Der einzige Ort, an dem man Empfang hatte, anrufen konnte. Ich rief meinen Mann an und sagte, dass wir hier wegmüssen, weil es mental nicht auszuhalten sei das alles zu hören. Wie Glas zerschellt – all das…
Und er sagte, dass sie kommen und uns mit dem Auto abholen würden. Und am 2ten morgens machten wir uns bereit, wollten die Sachen zusammenpacken, machten Frühstück, saßen, ich trank Kaffee als in unserer Wohnsiedlung ein sehr heftiger Beschuss begann. Direkt bei den Wohnhäusern. Es gab Einschüsse in den Häusern. Ich ging in die Wohnung zur Nachbarin, die Kinder saßen im Korridor, alle Fenster und Türen in meiner Wohnung wurden von der Druckwelle einer starken Explosion aufgerissen.
Ich ging zur Nachbarin, auch ihre Fenster waren von der Druckwelle aufgerissen, ich ging zum Fenster, lugte hinaus und sah, wie vor meinen Augen im Gebäude gegenüber drei Wohnungen getroffen wurden. Im neunten, siebten und zweiten Stock.
Die Leute liefen hinunter in die Keller der Häuser oder suchten schnell Schutz in den Eingängen und wir saßen hilflos und angsterfüllt im Korridor. Das wars.
Der Angriff dauerte über eine ganze Stunde. Heftige, aggressive und intensive Kämpfe. Total verrückt. Alles flog auseinander, alles rundum wurde zerstört und verschüttet.
Nach dieser Stunde, und offensichtlich gibt es noch immer Schutzengel, die aufpassen und behüten, holte uns dann das versprochene Auto ab. Der Chef meines Mannes holte uns ab – mein Mann arbeitete als Elektroingenieur im Werk „Asowstahl“ – und nahm uns mit. Auch sie waren unter schweren Beschuss geraten, hatten sich mit dem Auto seitlich hinter dem Haus versteckt. In der Nähe von „ATB“ (ukrainische Supermarktkette).
Dort hatten sie gestanden und gewartet, hatten den ganzen Angriff miterlebt, all die Zerstörungen dieses Beschusses. Und als sie an die Tür klopften und sagten, sie seien wegen uns gekommen, da hat es mich zerrissen vor Freude, während die Tränen nur so flossen. Sie zogen die Kinder an, packten sie in ihre Mäntelchen und Stiefelchen und dann rannten sie einfach hinaus und setzten sich ins Auto.
Ich legte die Sachen zurecht, die ich hatte, hatte ganze Packen voller Sachen, nahm Decken, Kissen, Geld mit, nahm Dokumente mit, buchstäblich eine Tasche mit Dingen, die wir zusammenbringen konnten. Darunter warme Socken, Kinderstrumpfhosen, Leggings und sowas. Und wir nahmen sie mit ins Auto und fuhren davon. Wir fuhren und hörten einen weiteren Einschlag hinter uns, sahen noch die Zerstörungen.
Wir fuhren durch die ganze Stadt, nach „Asowstahl“ – alle Straßen waren schwer beschädigt. Überall: es gab keinen einzigen ganzen Straßenabschnitt mehr. Überall waren Granatlöcher, irgendwo ragten sogar Granaten heraus … Blindgänger … So war es.
Wir kamen bis zur die Brücke – die zentrale Brücke, die die beiden Flussufer von Mariupol verband. Das Militär kontrollierte uns, sah sich die Dokumente an, sah, dass die Kinder bei uns waren, und ließ uns durch.
Wir fuhren zu ihnen nach Hause, im Stadtteil Primorskij, nicht weit vom Geschäft „Tausend Kleinigkeiten“, also praktisch vom Stadtzentrum aus etwa zehn bis fünfzehn Minuten zu Fuß. Wir kamen dort an, sie hatten Strom, sie hatten Gas, sie hatten Internet – das war so krass – wir hatten eine Woche lang ohne Strom, ohne irgendetwas, dagesessen und dann kommst du dort an und: Die Leute gehen einfach ruhig durch die Innenstadt. Sie hören, dass irgendwo Kämpfe stattfinden, aber sie sehen es nicht. Und das war krass für mich. Ich konnte es nicht fassen – wie konnte es sein – wir verstecken uns dort in den Kellern, und hier laufen die Leute herum und spüren die Gefahr nicht. Ich nehme an, dass viele nicht dachten, dass es sie erreichen könnte, bis hin in die Innenstadt.
Wir kamen an, alles war gut, wir begannen zu uns zu kommen, die Kinder schienen wieder ein wenig aufzuleben, sie hatten Telefone, sie spielten. Nach drei, vier Stunden hatten wir auch dort Strom und Wasser verloren. Es gab Gas – das war alles. Und wir hatten noch Trinkwasser.
Dann kamen die Tage, an denen wir Schnee sammeln mussten. Wir sammelten Schnee und erhitzten ihn. Auf dem offenen Feuer. Dann machten wir Tee. Kochten Essen damit. Wir sammelten Regenwasser, stellten auch überall Drei-Liter-Flaschen zum Abtropfen auf, sammelten die ganze Zeit Wasser. Draußen war es kalt, wir haben fast die ganze Zeit im Keller verbracht. Sechzehn Tage im Keller gelebt.
In den ersten beiden Nächten des 2ten und 3ten März, als wir dort waren, versuchten wir, im Haus zu schlafen. Aber als wir hörten, dass die Einschläge näher kamen … Kinder kann man nicht so schnell fertig machen – sie sind im Schlaf, können sich nicht alleine anziehen. Und man musste noch über die Straße in den Keller. Es schneite und meine Kinder rannten in gewöhnlichen Socken in den Keller. Und ich eilte dann schon unter Beschuss mit den Schuhen und der jüngsten Tochter im Arm hinterher.
Und so haben wir uns ab dem vierten Tag komplett im Keller eingerichtet. Wir hatten Holzpaletten, hatten die Decken und Kissen, die wir mitgenommen haben … Kinderdecken – darauf haben wir die Kinder zum Schlafen gelegt … Wir selbst haben sitzend, liegend, wie auch immer – geschlafen in jeder Position. Es gab Tage, an denen wir den Keller gar nicht verlassen haben. Denn es gab sehr starke Kämpfe, und so kam es, dass wir im Epizentrum waren.
Von der einen Seite kamen die Granaten angeflogen, über unsere Köpfe hinweg, dann schlugen sie hinter den Häusern ein. Wir hörten wie sie in das Geschäft „Tausend Kleinigkeiten“ einschlugen. Wir hörten das Zischen der Raketen, sahen, woher die Salven kamen. Denn gerade im Dunkeln sieht man, woher das Blitzen kommt, dann hört man das Zischen und dann wo der Einschlag war.
Wir standen da und versuchten herauszufinden, in welche Richtung es ging. Es war, als würde man im Keller sitzen, und man hatte das Gefühl, als würde es jetzt gleich auf dich einschlagen und dich zerreißen. Wir hatten wirklich viele Male gedacht, dass es unser Haus getroffen hat, aber es war fünf-sechs Häuser von uns entfernt. Ganz in der Nähe. So waren wir gerettet, es kam nicht direkt bis zu uns – Gott sei Dank.
– Wie war das Leben während des Beschusses?
– Wir haben auf offenem Feuer gekocht, die Männer haben eine Art Grill gebaut. Feuerholz war, Gott sei Dank, da, schließlich war es deren eigenes Haus. Wir haben Holz gesucht, gesägt, gesammelt. Bei dem Geschäft „Tausend Kleinigkeiten“ konnte man in den ersten Tagen telefonieren. Dort in der Nähe war der Kyjiwstar-Turm, durch den die Leute manchmal Empfang hatten. Als wir uns morgens am vierten Tag dorthin aufmachten, um zu telefonieren, funktionierte es nicht. Ich konnte weder meinen Mann, noch Verwandte erreichen. Abends als es noch eine Ausgangsmöglichkeit gab, sind wir wieder hingegangen, es war mir wichtig, meinen Mann zu hören, dass er lebt, dass er gesund ist, dass er heil ist. Ich habe ihn erreicht. Wir sind wieder nach Hause gegangen.
Das Essen wurde auf einem Feuer gekocht, wir versuchten, ein paar Fladen zu machen. Weil es kein Brot gab. Nichts.
Die Kinder, die bislang alles in ihrem Leben hatten, absolut alles – von Spielsachen bis zu Lieblingsspeisen – hatten plötzlich absolut alles verloren …
Die Männer gingen einkaufen. Sie schafften es einige Lebensmittel zu ergattern, das, was es noch gab. Sie kauften Müsli im Laden, dann brachten sie den Kindern Süßigkeiten – die Kinder waren sehr glücklich. Denn seit Kriegsbeginn waren wohl schon zwei Wochen vergangen.
Dann, wahrscheinlich am 9ten oder 10ten Märt neunten oder zehnten, gingen wir zu „Tausend Kleinigkeiten“, um anzurufen. Es funktionierte nicht. Wir machten uns auf den Rückweg, an einem großen, freistehenden Schulgrundstück vorbei, eine Schule, keine Häuser, nichts, kein Schutz. Man musste über das offene Feld laufen bis zum Zaun zu den bewohnten Häusern. Und als wir dort rannten, hörten wir, den lauten Schall einer Rakete.
Wir duckten uns hinter dem Zaun und nur einen halben Meter über unseren Köpfen flogen die Trümmer. Wir sahen, wie sie rauchten, wie sie glühten. Wir rannten weg, nach einiger Zeit hielten wir an, mussten uns ausruhen. Wir haben gesehen, wo das Geschoss eingefallen ist. Ich verfolgte wie es im fünften Stock eines Wohnhauses eintraf – es sind meistens flache, fünfstöckige Häuser –, wie es in das Haus einschlug, wie das Haus Feuer fing.
Die Leute begannen sich in diesem Moment bereits zu verstecken, sie verstanden, dass noch immer Gefahr bestand. Als dann die Luftangriffe begannen, wurde es richtig fürchterlich. Als sie nachts anfingen zu fliegen und die Flieger zu hören waren, rannten alle aus den Häusern. Ich bin im Keller aufgestanden, die Kinder sind nicht aufgewacht. Bis zu einem gewissen Grad empfanden sie keine Gefahr, vielleicht weil ich bei ihnen war. Sie sind nicht aufgewacht, haben nicht gehört, wann die Flieger ankamen und wann davonflogen. Aber wir haben die Flieger genau gehört, und es herrschte schon eine regelrechte Panik.
Denn wo der Flieger die Bombe abwerfen würde, wusste man nicht, konnte es nicht wissen. Die Luftangriffe begannen, ständig bombardierten sie die Innenstadt. Es kam vor, dass wir das Haus überhaupt nicht verließen, weil wir ständig alle zehn bis fünfzehn Minuten hörten, wie das Flugzeug vorbeiflog und wie die Bomben einschlugen. Zu dieser Zeit als sie begannen das Stadtzentrum zu bombardieren, gab es Treffer in der Nähe des Dritten Stadtkrankenhauses, auf dem Zentralmarkt, als die Fensterscherben der Einwohner über einen Kilometer hinwegfegten.
Zu dieser Zeit lebte dort auch die Mutter derjenigen, die uns in ihr Haus aufgenommen hatten, sie kam zu Fuß mit dem was sie am Leib trug. Allein mit dem was sie am Leib trug, kam sie herein. Am nächsten Tag verließen uns die Männer morgens, nahmen warme Sachen und ihre Dokumente mit.
Ein Einschlag traf auch das Krankenhaus, ich habe Fotos gesehen. Der Fahrer, der uns fuhr, Sergej, zeigte die Fotos, die er vom Fenster aus gemacht hatte. Dort, so sieht man, steht ein Haus und daneben steht das städtische Krankenhaus. Es zeigte die Einschläge eines Luftangriffs … Löcher wie soll ich sagen, Löcher so groß, dass „Kamaz“ (russischer Lastkraftwagen) problemlos hineinpassen und man sie nicht sehen würde.
Маріуполь в облозі, фото: телеграм-канал "Украина Life"
– Haben Sie Kriegsverbrechen gegen Zivilisten gesehen?
– Auf der Straße, auf einer Bank, lag ein Mann ohne Lebenszeichen, es war zu erkennen, dass der Mann bereits tot war. Auch eine Frau lag auf der Straße… Wir versuchten, irgendwo zwischen den Häusern entlang zu gehen: Als wir das Flugzeug hörten, rannten wir entweder zu einem Haus oder rannten in den Eingang. Denn man wusste nicht, in welche Richtung es fliegen würde.
Wenn es ein Bodengeschoss ist, dann kannst du ziemlich genau einschätzen von wo es wohin fliegen wird, bei einem Flugzeug kannst du nur hören, dass es über dich hinwegfliegt, wo aber die Bombe genau einschlagen wird, das weißt du nicht.
– Wie entschieden Sie sich, die Stadt zu verlassen?
– Wir waren uns einig, dass wir die Stadt um jeden Preis verlassen müssen. Am 20ten März rief ich meinen Mann an, er rief meine Schwester in Jalta an, ein kleines Städtchen, nicht weit von Mariupol entfernt, zwanzig Kilometer. Vielleicht dreißig. Und meine Schwester fand einen Fahrer, der kam und holte uns ab. Am 21. März verließen wir Mariupol. Der Fahrer kam morgens, auch unter Beschuss, wir saßen im Keller – kamen dort nicht raus. Wir hörten, dass jemand von der Straße her laut rief, wir rannten raus, in Socken. Und ich erkannte den Fahrer war, er sagte: Ich hole Sie ab. Wir holten schnell die Kinder. Ich hatte meine Koffer gepackt, alles zurechtgelegt, wir haben die Kinder ins Auto gepackt und sind losgefahren.
Wir fuhren die Straße entlang, wir sahen viele Panzer, viel Militär-Ausrüstung, russische, die Panzer waren leer, nur kaputte Panzer, es waren offensichtlich verlassene Kontrollposten.
Am Eingang von Jalta wurden unsere Dokumente einmal überprüft, sie haben nur die Geburtsurkunde der Kinder überprüft, auf die Kinder geschaut, unsere Sachen wurden nicht überprüft. Nur die Dokumente. Und wir fuhren weiter – nach Jalta hinein. Und dort waren wir einen ganzen Tag…
Wir fanden dort einen Fahrer, der uns nach Berdjansk brachte. Von Mangusch bis Berdjansk … Wir haben ihm Geld für fünf Personen zehntausend Griwna (ca. 250 €) bezahlt. Als wir in Berdjansk ankamen, waren dort russische Soldaten, alle mit weißen Bändern, mit diesem Buchstaben „Z“ auf Panzern, auf Fahrzeugen. In Berdjansk gab es viele Militärfahrzeuge. Wir standen den ganzen Tag in der Schlange für den Bus, aber es gab zu diesem Zeitpunkt keine Busse …
– Wie haben Sie es geschafft, das besetzte Gebiet zu verlassen?
– Der Konvoi (von Bussen und Autos) verließ um elf Uhr morgens Berdjansk und um zehn abends kamen wir in Saporischschja an. Von Wasiliwka nach Saporischschja fuhren wir schon im Dunkeln, es dämmerte schon. Und wir gerieten unter Beschuss. Wir hörten, wie die Granaten nicht weit von uns einschlugen, unsere Kolonne wurde vollständig gestoppt. Außerdem war sie sehr groß. Mehr als 4.000 Menschen wurden an diesem Tag evakuiert.
Die Kolonne war wahrscheinlich drei Kilometer lang, es waren fünfzehn große Busse, und viele einfache PKWs dabei. Wir standen eine oder anderthalb Stunden, schätze ich. Kein Licht, alles komplett ausgeschaltet. Uns wurde gesagt, wir sollten unsere Telefone komplett ausschalten, damit weder Geolokalisierungen, noch Geotagging zugreifen kann.
Irgendwann blinkte jemandes Telefon im Bus und eine Frau sagte: „Ich weiß nicht, wie ich es ausschalten soll!“. Wie man die Frau dann angeschrien hatte! Aber es war ja auch wirklich nervenaufreibend. Denn alle waren sehr verängstigt.
Granaten schlugen in der Nähe ein, wir sahen, wie sie qualmten, denn es war ja auf offenem Feld. Man konnte alles gut sehen und das war für mich umso beängstigender. Die Kinder sofort auf den Boden. Zu den Tüten und Taschen. Die Frauen bückten und beugten sich irgendwie über sie wie sie gerade konnten, so haben wir uns also verborgen.
Nach anderthalb Stunden – ging es wieder weiter. Sie haben uns Richtung Saporischschja durchgelassen. Das Militär hat uns reingelassen – es war schon ukrainisches Territorium. Unsere Soldaten waren schon da.
Wie haben Sie dann die Kinder gerettet? Wie sind Sie weitergefahren?
– Natürlich waren die Bedingungen sehr schwierig. Wir sind mit dem Zug weiter, hatten ein Schlafwagonabteil, also ein Abteil mit zwei Sitzbänken, neun Leute saßen auf diesen zwei Sitzen. Es waren generell acht oder neun Personen in einem Abteil. Wir haben versucht uns irgendwie zumindest hinzusetzen, hinlegen konnte man sich nicht, nur irgendwie sitzen.
Man musste ja so viele Personen wie möglich unterbringen. An den Bahnhöfen von Saporischschja waren nur die Abteile besetzt. Dann setzten sich die Leute in die Gänge, auf ihre Tüten und Taschen, sind im Stehen mitgefahren oder haben versucht sich auf ihre Koffer zu setzen.
Nachts schliefen meine Kinder in den Bettdecken, die wir aus der Zeit im Keller mitgenommen hatten. Wir haben zwei Kinderbettdecken, die wir aus Mariupol mitgenommen hatten, und die haben wir noch immer. Sie sind wie ein Denkmal, weil sie irgendwie „alles“ mit uns durchgemacht haben.
Die zwei älteren Mädchen – meine Tochter und die meiner Freundin – lagen auf dem Boden, und wir zu dritt und weitere vier saßen auf den Bänken. Meine mittlere Tochter lag zuerst in meinen Armen. Für die Kinder war es sehr schwierig. Es war heiß im Zug, ihnen war übel. Wir sind genau einen Tag gefahren. Von Saporischschja nach Lwiw sind wir genau einen Tag gereist.
Wir waren um zwölf in den Zug gestiegen und waren am Tag darauf um zwölf Uhr vierzig angekommen. In den Toiletten gab es unglaubliche Warteschlangen wegen der Masse an Menschen. Es war sehr schlimm, als es den Kindern so schlecht wurde, sie mussten sich übergeben und hatten weitere Beschwerden. Wir kamen in Lwiw an, verließen den Bahnhof, näherten uns dem Zelt, uns wurde gesagt, wir sollten zur Verwaltung gehen, wir würden von dort aus für einige Zeit untergebracht. Wir kamen hierher, von sechs Kindern ging es Dreien schlecht, ihnen war übel und keine Pillen, kein Sirup – nichts half.
– Was glauben Sie, wird als nächstes passieren?
– Wir werden definitiv nach Mariupol zurückkehren, ich bin sicher, dass es auf jeden Fall ukrainisch sein wird, unsere Armee ist sehr groß – sie werden alles zurückerobern.
Kateryna ist mit ihren drei Kindern bereits im Ausland in Sicherheit. Und wir alle glauben, dass der Sieg bald unser sein wird. Mein Name ist Taras Sosulinskij, ich bin Journalist aus Lwiw und wir setzen unseren Kampf fort.